Natural Born Nibelungen Killers

MIR IST DAS EGAL - ICH STEHE JA NACHHER
NICHT AUF DER BüHNE

Probebühne, 29. März 1995, 13 bis 15 Uhr

Die BEWAG, vereinigungsbedingt EBAG (oder umgekehrt), besitzt im Dreieck Schiffbauer Damm, dichtgemachtem DDR-Kulturbund-Kultklub "Die Möwe" und der S-Bahntrasse zwischen Friedrichstraße und Lehrter Bahnhof eine trutzige Immobilie, unter deren Dach die Volksbühne probt - unsichtbar für Leute, die am Spreegeländer entlang ins immer noch öde, ehemalige Reich der Grenztruppen pilgern. Oben in der 5. Etage feierten wohl damals die hauptstädtischen Stromverwalter ihren Tag der Republik, hörten die begeisternden Reden der Genossen, zechten bei lustigen KGD-Programmen und der Betriebssingeklub ENERGIE wird dort wohl das Lied "Strom, der nie versiegt" einer gelangweilten Bezirksberatergruppe vorgestellt haben. Lägen nicht ein paar leere Brausebüchsen und anderer bunter Konsumschrott herum, und säßen die Beobachter und der Macher dieser "Nibelungen"-Probe nicht mit dem Rücken zum Bühnenrand, von einem zum anderen Moment könnte durchaus eine fröhliche Volkstanzgruppe Aufstellung nehmen, um sich für die Arbeiterfestspiele warmzumachen.

Bei Castorf klemmt die Säge, wie Assistent Lukas Langhoff sagen würde. Er meditiert vor sich hin, gar nicht darauf aus, von den beiden Schauspielerinnen Sophie Rois und Silvia Rieger (beide sitzen, sechs/acht Meter vom Regietisch entfernt, unschlüssig auf den unteren Stufe einer nach hinten verjüngten riesigen Treppe) oder sonsteinem Menschen, z. B. von seinem Chefdramaturgen Matthias Lilienthal, eine Reaktion zu erwarten oder einzuklagen. Fünfzehn oder zwanzig Minuten redet er (vielleicht auch nur drei oder vier), formt Gedanken über die konkrete Szene des Kirchgangs zu Worms, schwadroniert über die Verwendung von Treppen in der Kunstgeschichte, schweift dann meilenweit ab, referiert über Stummfilmzitate im Theater und meint nach seinem schnellen Ja, ob eine mal aufs Klo darf: "War pädagogisch völlig falsch, Pullerngehen dürfte sie erst dann, wenn die Szene stimmt; ist mehr Druck drin!"

Castorf
Ich brauche was Besonderes, damit ihr einen Knall kriegt und sagt: Ich kann nicht mehr, ich kann hier in dieser furchtbaren Treppenbühne nicht leben, ich muß hier raus. Also nur wenn ich diese ungeheure Nervigkeit sehe, dann geht das. Ansonsten bleibt das nur irgendeine Illustration. Die Frage ist: Welche Spielidee trägt hierfür? Ich kann's bloß noch mal als Erinnerung sagen: Davor war Sprache, davor ein Spiel in einem großen leeren Raum, mit einer Blechschüssel, zertretenen Trauben, einer Flasche, einem Rauschzustand, wo Du, Silvia, gesagt hast: Tod für Siegfried, der hat Dich mal gehabt, und deshalb müssen alle, die das wissen (und er selber), sterben. Das fand ich schön in dieser ungeheuren Entschiedenheit. Davor so'ne witzige Sache, die nichts weiter ist. Und jetzt brauchst Du was anderes, das braucht auch 'ne andere Kraft. Nur aus euch selbst zu spielen, ist zu wenig. Ich weiß nicht, ob der Gedanke trägt, jetzt so'n anderes Kulturzitat zu haben. (zur Assistentin): Spiel mal jetzt die Musik. Eigentlich finde ich ja die Film/Theater-Zitate totale Kacke. Aber ich finde keinen Absprung. Ich weiß auch nicht. Mich würde es auch nicht befreien, wenn ich jetzt zwanzig Recken mit Gefolge hätte, da würden die dann nur schreiten, Mützen hochwerfen und "Jucheh Brunhild", "Jucheh Kriemhild" rufen und sich mit Stiernackenblick bösartig angucken.

Silvia Rieger zur Requisite, holt den vergessenen Gürtel, bindet ihn um. Musik aus dem Soundtrack "Natural Born Killers" dröhnt aus den versteckten Boxen.

Castorf
Versucht doch einfach mal, damit was zu machen. Normalerweise kommen die im Film und schießen alles kreuz und quer tot. Versucht das mal, fallt um.

Rieger
Also, wir spielen das praktisch, was die da machen?

Castorf
Weiß ich nicht, Silvia. Was ich an Spiel meine, das ist wie ein Ausstieg aus einem Spiel, und mit einem Mal mache ich ein Spiel extrem. Mir geht's darum: wie kommt ihr in einen Zustand, wo ich als Zuschauer Angst habe.Versucht mal zu kommen über diese Musik, über das Umfallen.

Die Musik wird wieder eingespielt. Rieger und Rois gehen die Stufen hoch. Bei den Soundtrack-Schüssen fallen beide wie beim Cowboy-und-Indianer-Spiel um. Castorf schlägt innerlich die Hände über dem Kopf zusammen. Guckt mal nicht nur, sondern versucht euch auf den Treppen zu bewegen.

Rieger
Ja, man weiß ja nicht, was da musikalisch kommt.

Castorf
Ja, aber das wichtige ist doch, was ihr macht.

Rieger
Ich komme immer bloß bis zum letzten Absatz.

Castorf
Es gibt noch mehr.

Rieger
Weiß ich nicht. Das einzige, was es gibt, ist abzustürzen. Ich weiß nicht...

Castorf
Sag doch nicht immer, ich weiß nicht.

Rieger und Rois sind genervt. Castorf anscheinend auch.

Rieger
Ich versuche hier irgendwas zu illustrieren: Jetzt gehe ich darüber, dann habe ich wieder Angst...

Castorf
Ja, da fehlt was Reales.

Rieger
Mir fehlt der Vorgang.

Castorf
Was ist das, wenn man da so hochkommt. Ich kann das nicht sagen. Ich will das jetzt auch nicht choreographieren. Das sind ganz verschieden zusammengestellte Musiken. Und im Augenblick steht ihr nur da und guckt in irgendeine Richtung.

Schweigen

Wir kommen auf diese Treppe, auf die letzte Stufe. Was ist eigentlich hinter dieser Welt, was ist hinter dieser Treppe. Vielleicht fehlt da Papier oder ein Hänger. Das muss zu sein. Man will durchgucken, und man guckt in ein geheimes fremdes Land. Aber ich weiß auch nicht, ob das als Bild wirklich vorhanden ist. Löst so'ne Musik das aus oder nicht, dürfen wir dort durchsehen oder nicht oder ist das totaler Pop. Ich weiß es nicht. Die Musik donnert jetzt das Moderne rein und ihr spielt das dann so... Man muss wissen, was man tut. Man geht hoch und will woanders hingucken. So, dann guckt man nach hinten und dann ist man total schockiert, was man gesehen hat.

Schweigen

Möglicherweise bohrt Ihr ein Loch in die Papierwand. Oder ist das Scheiße?

Rieger
Ich weiß es nicht.

Castorf
Bevor ihr nicht selbst jetzt zur Musik einen Gegengewicht gebt, kommen wir mit dieser Szene nicht weiter. Jetzt bewegt ihr Euch genau in der Geschwindigkeit, wo ich geneigt bin zu arrengieren. Da komme ich im Augenblick nicht ran an die Szene. Das ist ein rein sportliches Problem.

Rieger
Das ist kein sportliches Problem.

Castorf
Ja, für mich. Die Kostüme regen auch kein Gramm Phantasie an.

Rieger
Das ist logisch.

Castorf
Die Musik drängt euch auf die letzte Stufe. Da aber ist zu, da ist ein Vorhang gezogen.

Rieger
Hast Du jetzt gezogen!

Castorf
Behaupte ich. Als neugierige Frau will man jetzt hinter diesen Vorhang gucken. Traut man sich das oder nicht. Das ist eine kurze Sache, die man rhythmisch so aufteilen muss, dass sie stimmt. Im Augenblick habe ich keine Lust, wieder ein Spielrequisit wie die kleine Wanne auf die Bühne zu bringen oder einen Stuhl - wer setzt sich hin? Das braucht was anderes, ich weiß bloß nicht, was es ist.

Rieger
Jetzt willst du sagen, hier oben am Ende der Treppe ist eine Wand, eine Papierwand.

Castorf
Ein Vorhang. Die Musik dröhnt hinter dieser Wand, Ich brauche bloß was, was Euch in Bewegung versetzt, einen Zustand. Wenn Ihr den nicht akzeptiert, komme ich auch nicht weiter. Wenn man zu lange mit dem Arsch zum Publikum...

Rois
Ja, ja, ich weiß. Aber das ist so'n Krampf...

Rieger
Das ist Krampf, objektiv. Nicht nur du kommst nicht weiter, auch wir kommen nicht weiter.

Castorf
Mir ist das ja egal. Ich stehe nachher nicht auf der Bühne. Also, was macht man da in diesem Treppending? Ich weiß es nicht.

Schweigen

Rieger
Ich weiß einfach nicht, was hier läuft. Jetzt ist da also ein Film, das Kino ist zu. Ich werde durch die Musik angezogen, werde an- oder abgestoßen - was soll das sein? Ich verstehe das einfach nicht.

Castorf
Ich rede jetzt schon die ganze Zeit davon. Haben wir dahinten einen Lappen als Vorhang?

Assistentin geht raus, holt zwei Bühnenarbeiter. Die befestigen am Ende des Treppe einen Vorhang.

Rieger
Mir ist das zu ausgedacht.

Castorf
Also ich kann echt nicht hinsehen, auf das Schwarze mit dem weißen Plastikgürtel. Da wird mir übel. Mir fällt auch wirklich nichts ein, wenn ich die beiden Damen in der Art sehe, wo ich einschlafe. Zieht euch doch mal um.

Die Damen kommen zurück. Rieger sieht nach Pampa aus, weite Hosen, breitkrempiger Hut und hält vorsichtshalber noch einen Harnisch in den Händen. Rois trägt über einem weißen Unterhemd ein rotes Mieder.

Castorf
Mal sehen, ob's steigert.

Rieger
Es steigert in Unmaßen.Es ist einfach nichts da, was 'ne Idee haben könnte. Ich habe mir vor Verzweifelung erstmal alles angezogen.

Rois
Es ist alles Scheiße, wirklich.

Rieger
Ich hasse es. So kommen wir auch nicht weiter. Sophie sieht auch nicht viel erquicklicher aus.

Castorf
Mit dem geschlossenen Vorhang ist's genauso beschissen. Da kann man hochgehen und einmal den Vorhang abreißen, dann hat sich der Fall.

Rieger
Die Illustration mit dem Film müßte weg. Aber dann stehen wir vielleicht bloß rum und sagen doof die Texte auf. Es ist bestimmt ganz einfach. Wir machen es uns bloß so schwer.

Castorf
Ja sicher ist das einfach...Nee, so ist das doof.

Rieger
Ich ziehe das jetzt sofort wieder aus, außerdem kratzt das furchtbar.

Castorf
Ja kommt, sagt einfach bloß die Texte. Das wirkt jetzt so ausgedacht.

Rieger
Ja. Das bringt uns letztlich nicht auf das Thema.

Castorf
Oder fehlen noch andere Leute hier auf der Bühne?

Rieger
Das ist auch nicht der Punkt. Hier fehlt einfach die Idee.

Castorf
Na zieht euch mal privat an.

Die Bühnenarbeiter entfernen den Vorhang, Rieger und Rois zurück in Straßenklamotten. Beide auf der untersten Treppenstufe. Kirchgangszene.

Rois
Es kann doch keine Jubeln, die den Gatten erliegen sieht.

Rieger
Davor bin ich doch gefeit. Du lächelst?

Rois
Weil du dir gar so sicher bist.

Rieger
Ich darf es wohl auch sein.

Rois
Zur Probe wird's nicht kommen. Und auch ein Traum ist süß, drum schlaf nur zu, schlaf zu, ich wecke dich nicht auf.

Rieger
Nun sehe ich, wie alle Unnatur sich rächt. Du hast der Liebe widerstanden wie keine, nun macht sie sich zur Strafe doppelt blind.

Rois
Du spricht von dir und nicht von mir. Es gibt keinen Grund zum Streit. Das sieht die ganze Welt. Eh ich geboren war, war es bestimmt, daß nur der Stärkste mich besiegen soll.

Castorf
Das reicht, brauchen wir nicht weiter. Was macht man da? über Sprache ist so eine Annäherung nicht gut. Gestern hatte das so'n Unterhaltungswert, was wir heute machen, ist zu ambitioniert.

Rieger
Ja

Castorf
Ich habe keine Idee. Ist der Raum falsch? Wir können auch den anderen haben. Du hast durch diese Königstreppe einfach immer das Gefühl, hier müßte etwas Besonderes passieren. Ich habe hier keine Phantasie. Man geht hoch und stürzt ab. Das ist wahrscheinlich das beste.

Rieger/Rois
Ja.

Rieger
Diese Treppe hier, wie sie konzipiert ist, hat leider keine tatsächliche Funktion.

Castorf
Gut, stellste eben einen Thron hin, dann wird's reiner Symbolismus. Du brauchst eine klare, konzentrierte Sache. Und die habe ich nicht, fällt mir auch jetzt nicht ein.

Susanne Dillmann erscheint zur Probe, murmelt etwas.

Castorf
Was, hast du 'ne Idee?

Susanne
Vielleicht brauchst du ein großes Gefäß - man traut sich's schon nicht zu sagen - und die baden dadrinnen.

Rieger
Baden? Die ganzen Wannen und Büchsen und Wasser, das kannst du alles vergessen. Oder sowas ganz Neues wie in den "Rheinischen Rebellen", und dann kommen noch Tennisbälle und von der Seite Mehlsuppe - wunderbar. Und ich mit 'nem Messer - huh!

Castorf
Nun komm, komm, komm, komm. Das Tonnenbild in den "Rheinischen Rebellen" war nun wahrlich nicht das schlechteste.

Rieger
Ja, es gab bestimmt schlechtere.

Castorf
Wir versuchen mal, ob wir die ölfässer aus den "Rheinischen Rebellen" noch kriegen. Sopie kommt, hat sich umgezogen, will eigentlich hoch, und bevor sie oben ist, kommt so'n Lawinenspaß von Kriemhild runter. Wir können's auch umgekehrt machen. Silvia du kommst, willst zum Kirchgang, die Glocken läuten oder du singst irgendein Kirchenlied. Und die andere mit ihren isländischen öl- oder Fischfässern. Lauter eingelegte Salzheringe oder Walteile kommen da runter. Und dann, Silvia, bekommst du diese Bösartigkeit, die nicht in deinem Charakter liegt, sondern in der Situation. Da muss ich mir noch mal die Texte durchlesen, ob wir nicht noch mehr brauchen von dem, was wir gestrichen haben, weil ich mir die Szene ganz anders vorgestellt hatte. Und damit fangen wir mal morgen um elf an. Ich weiß nicht, ob der Einfall richtig gut ist, aber ich meine, dass er erstmal praktizierbar ist. Damit kann ich spielen, da fällt mir was ein. Ich kann nicht, wenn die eine auf der ersten Stufe steht, die andere woanders... Mir fällt da nichts ein, und was mir einfällt, das langweilt mich schon, wenn ich's ausspreche.

Ende der Probe. Castorf sitzt am Tisch, radiert ursprünglich gestrichenen Passagen in einer kleinen, ziemlich zerlesenen DDR-Reclam-Ausgabe von Hebbels "Nibelungen".


NICHTS AM SCHREIBTISCH ZURECHTBIEGEN
Gespräch mit Frank Castorf zur Dom-Probe

Frage
Dieser Probentag brachte keine Ergebnis. Wo klemmte es?

Castorf
Eigentlich geht's um eine Grundidee und deren Umsetzung. Es geht darum, welche der beiden Frauen, die sich gleichwertig als Königinnen empfinden, den Vortritt in den Dom hat. Weil Kriemhild anfängt zu quatschen, kommt die ganze Tragödie ins Laufen. Und die Grundidee soll nicht einfach verspielt sein, die soll nur über den Text laufen. Du brauchst etwas wie im Film, wo du sagst: Was ist das Besondere in der Beziehung zwischen diesen beiden Frauen. Das ist so ein intuitiver Prozess. Du versuchst also, Konstellationen zwischen den Frauen zu analysieren, wie ist das Machtverhältnis zwischen ihnen, welche politischen und sexuellen Interessen haben sie, was zeichnet beide sehr spezifischen Schauspielerinnen als natürliche Wesen aus. Dann musst du das in ein Spannungsverhältnis bringen. Das ist wie eine Folie über dem Text. Es war schon ein sehr komprimierter Text aus dem Original und zum Schluß habe ich das so verändert, daß die Kriemhild eigentlich gar nichts sagt. Wenn sich zwei Leute unterhalten, sind sie sehr normale realistische Wesen. Spannend wird's eigentlich immer dann, wenn der eine spricht und der andere schweigt. Im Schweigen liegt eine ganz andere Kraft, eine Unnahbarkeit. Wir verwenden jetzt als kurze Wiederholungsschleife einen instrumentalen Teil aus der "Walküre" (was eine Art beschleunigten Herzschlag gibt). Und die Frauen müssen die Sprache als Sprache benutzen und trotzdem die Qualität von etwas Musikalischem haben, praktisch mit dieser pochenden Herzschlagmusik von Wagner korrespondieren. Das habe ich angefangen wie in diesem Fritz-Lang-Film, also mit einer expressionistischen Stummfilmdarstellung - große Augen, Körpersprache verlangsamt, dann wieder beschleunigt. Das war wie so eine Ouvertüre der beiden Frauen, wie eine Vorahnung. Dann sind die Körper warm geworden, haben einen intensiven Ausdruck bekommen, so dass dieses stumme Spiel irgendwann umschlug in eine Schmerzhaftigkeit. Sie kämpfen und würgen, Kriemhild fällt um. Die Texte bekommen eine ganz andere Härte, wenn Brunhild die ohnmächtig oder totgeglaubte Kriemhild fragt: Warum bist du heute so abweisend zu mir, warum gibst du mir nicht deine liebende Hand?
In dieser Stille sind sie viel liebevoller als wenn sie einander zuhörten. Wirkt eigentlich wie eine Grabesrede, bevor sie beide im letzten Fünftel in den Dialog kommen. Brunhild ist schockiert, weil die Rivalin weiß, daß sie hintergangen wurde, weil derjenige, der sie besiegt hat, nicht der angenommene Mann König Gunther, sondern ihr geliebter Erzrivale Siegfried war. Jetzt ist diese Szene eine Komposition, vorher war sie immer an der Halbherzigkeit der Konversation stehengeblieben. Aus dem Geist der Musik ist die Szene jetzt entstanden. Man muss eben eine Intuition zu einer Szene haben. Man kann durchaus bestimmte Sachen analysieren, ausdenken, vorschlagen, wissen, wie es eigentlich richtig ist. Aber richtig ist oft langweilig und deshalb nicht wichtig. Und dann muss man auch die Chemie von zwei Frauen, die sowohl in den Figurenrollen selbst als auch privat etwas sehr Exzentrisches haben, in übereinstimmung bringen. Und letztlich soll die Szene über einen starken Grundgedanken auch dann funktionieren, wenn sie mal schlechter gespielt wird.

Frage
Silvia Rieger und Sophie Rois rannten bei dieser Probe rum wie Falschgeld. Die wußten einfach nicht, was sie machen sollten, was du von ihnen wolltest.

Castorf
Das ist immer so, also bei allen. Es gibt Szenen, in denen du eine klare konventionelle Handlung erzählst, was für die übersicht des Zuschauers auch wichtig ist. Die bedingen aber keine psychischen und physischen Extreme. Wenn du aber Extreme ansteuerst, ist das eine Abenteuerfahrt, von der du nicht weißt, wie albern, wie lächerlich du dich selbst als Person machst, wie sehr du dich Kritik und Spott aussetzt. Das ist wie beim Frauenarzt. Wenn zu viele Studenten zugucken, dann ist es derjenigen, die da auf dem Tisch liegt, sehr unangenehm. Gerade bei mir, wo ich die Leute provoziere wie bei einem ständig verhinderten Orgasmus, wo ich immer wieder abbreche, weil ich weiß, so wird das nichts. Und dann plötzlich kommt's. Die Leute springen aus Panik, Wut, Verzweifelung wie ein Pferd über eine Hürde, die sie noch nicht bezwungen haben. Dazu brauchen sie den eigenen Mut, nicht nur die Kraft der Verzweifelung. Das ist ein sehr spezieller, intimer Probenprozess, und da stört es manchmal, wenn zu viele Voyeure, also außerhalb eines solchen physischen Prozesses stehende Menschen herumlungern. Das war eigentlich in der alten DDR sehr viel einfacher, weil die Leute sich viel leichter geoutet hatten, viel eher in die Extreme gegangen sind, in Proben einfach Spaß dran hatten, sich selbst infrage zu stellen, nicht über sich oder Wirkungen oder Hierarchien nachdachten, ob sie sich irgendwas leisten konnten, sondern es einfach taten.
Das ist schon ein intuitiver Prozeß. Wenn ich merke, daß etwas wichtig ist, muß ich losrennen. Schon wenn ich zu viel erkläre, nehme ich was von dieser einmaligen spontanen Kraft. Das ist Millimeterarbeit. Es ist bei fast allen Schauspielern so, daß sie - Falschgeld, Ohnmacht - nicht wissen, was sie im magischen Moment tun. Sie nehmen etwas ab von mir. Natürlich bin ich so'n Medien, ein magisches Zentrum. Wenn sie bei mir merken, dass ich selbs zurückfalle, mich unterhalb meines Gehirns bewege, dann entwickeln sie auch kein Kraftfeld. Das ist vielleicht auch richtig so. Es kommt darauf an, in kurzer Zeit ein Maximum an Energie aufzuwenden, um das einzig mögliche oder notwenige situative Ergebnis zu erzielen. Man weiß vorher, was es ist, aber in dem Augenblick, wo man's macht, hilft Nachdenken nicht. Du kannst nicht immer debattieren und theoretisieren über einen Marathonlauf - du mußt ihn irgendwann mal über dich ergehen lassen, musst siegen wollen. Das ist eine spannende Sache. Dienstag haben wir angefangen, du warst Mittwoch da, erst am Freitag hatten wir diese relativ kurze Szene fertig. Ist mir aber mal angenehm. Manchmal, wenn's zu schnell geht, wird man lax, routiniert. Das ist auch ganz gut, heißt aber nicht unbedingt den Punkt treffen. Hier ist es anders, noch dazu bei solchen Frauen, die sehr viel mehr sein können als nur die Fülle des Wohllauts, die in der Lage sind, ein existentielles Extrem zu simulieren. Bei anderen Schasupielern bleibt's letztlich immer bloß die Behauptung, unter der Folie zeigt sich Distanz, Desinteresse.
Es wäre mir unangenehm, vier Tage an einer unwichtigen Szene zu basteln. Die Domszene aber ist ein neuralgischer Punkt, die Katastrophen auslöst. Vorher dachte ich, die Szene sei normal, routiniert, witzig, allgemein. Ich habe mich erst nicht bemüht, die größgliche Konkretheit dieser beiden weiblichen Wesen zu analysieren. Und dadurch wurde das eher so'n sozialer Verhaltenskonsenz, den ich da abrufen wollte. Wer kann als erster in einen Dom gehen, und wer nicht, ist darüber erregt und rächt sich dann. Das ist letztlich reduziert auf so'ne männliche Eitelkeit. Hier ist es aber tiefer liegend, hier sind andere Schichten und die haben mit Frau-Sein zu tun.

  STARTSEITE —   LESEN STECKBRIEF IMPRESSUM