Aus dem Vorwort zum „Sachsendreier“
ERHABENER SOUNDTRACK FÜR EIN REALSOZIALISTISCHES BIOTOP
Dieses Buch ist ein Reisebegleiter in ein verschwundenes Land, in die fetten Siebziger der DDR, wo electra, Lift und die Stern Combo Meißen ihren edlen sächsischen Stil zur klassischen Größe formten: Artrock made in GDR.
Die fetten Siebziger? Der wissenschaftlich-
Ein Song wie Pankows „Langeweile“, der später, in der Vorwende-Ära, das SED-Politbüro ärgerte, wäre, wenn wir die Klaus-Renft-Combo als Sonderfall ausklammern,
in den 70ern nicht geschrieben worden. Die Große Lähmung stand noch aus; vor und nach den X. Weltfestspielen 1973 hingegen stand das Land in kleiner Blüte. Die von Honecker 1971
auf dem VIII. SED-Parteitag verkündete Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik sorgte für Konsum-Schub, die als 6. Plenum bekannte SED-Kulturtagung von 1972 (zum Brot gehört das
Spiel) versprach Kunst- und Kulturschaffenden das Fallen von Tabus; die politische Großwetterlage schien entspannt, der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden hatte die Hallstein-Doktrin
überlebt und baute emsig diplomatische Vertretungen,
Das Entspannungsangebot war planmäßig und von Amts wegen sichergestellt worden - allenthalben frohes Jugendleben. Man war guter Dinge und hoffte, der Sozialismus sei nicht nur eine historische Notwendigkeit, sondern auch eine machbare Alternative.
Fast alle Musiker von electra, Lift und der Stern Combo Meißen tummelten sich zu Beginn ihrer Karriere auf Tanzböden von Kneipen, Klubs und Kulturhäusern. Keine Frage, dass sie die einschlägigen Hits der Stones, Beatles oder Kinks drauf hatten. Kein Geheimnis, dass sie auch das gemütliche deutsche Stimmungslied für Rentnerball und Fasching beherzt zu spielen wussten - bei electra sogar nach Noten. Später experimentierten sie mit Soul und Jazz und, zum Zwecke der Erlangung eines Berufsausweises, studierten die meisten von ihnen an der Dresdner Musikhochschule Carl Maria von Weber oder an der Leipziger Musikhochschule Felix Mendelssohn-Bartholdy. Die hauptsächlichen Songschreiber dieser Bands verehrten Bach und Mussorgski, Schumann und Schubert, manche auch Hindemith. Sie bewunderten Keith Emerson und Walter Carlos, respektierten den Polen Czeslaw Niemen und das tschechische Collegium Musicum. Und wenn sie mit ihren Kollegen beispielsweise Blood, Sweat and Tears oder Jethro Tull im Konzert nachspielten, taten sie dies mit einer in langen Nächten vom Tonband abgeschriebenen lupenreinen Notation.
In den Siebzigern verwandelten diese Bands DDR-Kulturhäuser in magische Orte der Kontemplation. Brav im Sessel sitzend, folgte das Publikum emphatisch der Rock-Zeremonie.
Mitklatschen war zwar nicht verboten, störte aber die Andacht. Diese Musik war nicht auf Bewegung aus - ihr Adressat war nicht der Körper. “Weil deine Seele brennt„ -
wohl kein anderes Stück als dieser Gospel mit dem falsettsingenden electra-Schlagzeuger Peter „Mampe“ Ludewig belegt die fast religiöse Vergeistigung der sächsischen
Rockmusik jener Zeit besser.
Als Ende der 70er Reggae und Punk in die Körper westeuropäischer Kids fuhren, Disko ein neues Publikum auf die Tanzflächen trieb, zeigte sich die Musikantengilde im Osten
Deutschlands relativ unbeeindruckt - liedhafter Rock und große Werke spielten sich gerade erst ihrer Hochzeit entgegen. Man wollte und musste sich vorerst nicht stören lassen.
Partituren wurden dicker, Melodien romantischer, Texte philosophischer. Neben berückenden Liedern in kostbaren Arrangements wie „Sommernacht“ (Lift) entstanden Konzeptwerke wie
„Weißes Gold“ (Stern Combo) oder „Die Sixtinische Madonna“ (electra). Das Publikum kam zu Konzerten, kaufte Platten. Der Staat verteilte Auszeichnungen. Als Garant friedfertigster
Lustbarkeit war Rockmusik zu einem normalen Posten im Kulturetat geworden - historischer Kompromiss von Staatspartei und Rock (Peter Wicke). Dass Funktionäre dennoch den von ihnen erzogenen
Rockern nicht über den Weg trauten, belegen praktisch erlittene Repressalien und stoßweise Akten der Gauck-Behörde. Rockbands waren abhängige, in vielen Segmenten ihres Daseins
erpressbare, kleine private Dienstleistungsunternehmen. Passte es einem Kulturfunktionär in den Kram, konnten Bandchefs jederzeit wegen angeblicher Steuerdelikte oder illegaler Einfuhr von
Equipment belangt werden.
Dieses Buch will den aus Sachsen stammenden Bands, als Sachsendreier seit 1998 erfolgreich unterwegs, eine Denkschrift sein. Zweifellos sind deren Epen und Balladen in den Köpfen Hunderttausender
Ostdeutscher zu Hause. Wie diese Menschen zum wiedervereinigten Deutschland gehören, gehört „Nach Süden“, „Kampf um den Südpol“ oder „Tritt ein in
den Dom“ zum gesamtdeutschen Kulturfundus.