SONNTAG Nr. 27 vom 6. Juli 1986

von Mathias Bäumel

„Wer sich für die Lieblingsfarbe von Henning Protzmann oder das Hobby Klaus Scharfschwerdts interessiert, findet in diesem Buch keine Antwort” (Seite 6), umreißt der Autor in ironisch abgrenzender Weise das Anliegen dieser Interviewsammlung. Die hier zum Ausdruck kommende Orientierung auf eine Rockmusiksicht jenseits aller Star-Histörchen schließt natürlich das Darstellen individueller Eigenheiten der Musiker durch die geführten Interviews nicht aus. Im Gegensatz zu den häufig werbeorientierten Beiträgen der Zeitschriften und des Fernsehens macht dieses Büchlein deutlich, dass auch Rockmusiker der DDR Leute mit persönlichen Ansichten, mit Stärken und Schwächen sind. So paart sich im Interview Jürgen Kerths die selbstbewusste Wertschätzung der eigenen Leistung mit einer inneren Bescheidenheit und aufrechten Haltung, während sich Reinhard Lakomy in seinen äußerungen als selbstgefälliger Pragmatiker zu erkennen gibt, für den vor allem der unmittelbare Erfolg zum Maß für künstlerischen Wert wird (Seite 80). Und wo Kerth ganz freimütig und emotional über sein Verhältnis zum Publikum spricht, gibt Ulrich Swillms Antwort auf die taktischen Erfordernisse eines zu publizierenden Interviews — er unterscheidet private Fragen von solchen für die Öffentlichkeit (Seite 57). Auch andere Gespräche im Bändchen, besonders die mit Engerling und Stefan Trepte, zeichnen ein Porträt der jeweiligen Musiker.

Doch über das Persönliche hinaus, und dies ist ein großer Vorzug des Buches, machen die Interviews Zusammenhänge der DDR-Rockgeschichte deutlich. Noch gibt es in unserem Lande keine Darstellung zu diesem Thema, doch „Rock aus erster Hand” veröffentlicht erfreulicherweise eine Menge Material und zeigt, wie man derzeit diesem Thema beikommen kann. Die Artikel über Bayon, City, electra, Karat und Stefan Trepte verdeutlichen das besonders, wobei für die heutige junge Leserschaft manches Vergessene der Vergangenheit entrissen wurde.

Die Interviews reflektieren, auch das halte ich für wertvoll, das Einbrechen neuer künstlerischer Haltungen und Stile in das bisher sicher geglaubte Gebäude von Vorstellungen über Rockmusik. Thomas Kurzhals, das in klassischer Musik geschulte damalige Stern-Meißen-Mitglied, erinnert sich: „1975 war für mich keineswegs schon alles durchgekaut. Viele gute Sachen von uns entstanden damals gerade. Was mich ein wenig schockierte, war, dass einerseits Musiker unheimlich grübelten, wie man neue Instrumente wirkungsvoll zum Einsatz bringt, und andererseits die New-Wave-Leute eine viehische Quietschkommode als Orgel einsetzten, und das sollte auf einmal dufte sein.” (Seite 159) Fast unscheinbar klingt mit diesen Worten eine Problematik an, die für das Konzipieren einer Rockmusikentwicklung im Lande von spürbarer Bedeutung war: die besondere Wertschätzung des Kunsthaften und Kunsthandwerklichen, das Verwechseln des Lyrischen mit dem belanglos Allegorischen, die Darstellung impulsiv-experimentellen Musizierens als notwendige „Kindheitsphase” einer Entwicklung, die in künstlerischer Reife gipfeln soll. Doch nicht nur an dieser Stelle kommen über das Mittel des Interviews wichtige Aspekte der DDR-Rockentwicklung zum Ausdruck. Beispielsweise gewinnt der Leser ebenso einen Eindruck von den Spezifika des Bluesspielens in der DDR, von der Rolle Berlins für einen künstlerischen und gleichermaßen kommerziellen Erfolg, von der Bedeutung Amigas und des Rundfunks, von den Schwierigkeiten beim Verfolgen anspruchsvoller künstlerischer Ziele. Diese Einblicke machen das Bändchen für alle, denen unsere Rockmusik am Herzen liegt, wichtig.

Noch ein Wort zur Führung der Interviews. Die Fragen zeugen von Kompetenz und zielen in ihrer Gesamtheit auf Wesentliches. Sie sind präzise, sachlich und unaufdringlich. Der Leser erhält durch die Dialogführung Gelegenheit, trotz Abwesenheit an einem substantiellen Gespräch teilzunehmen, ohne sich als unwillkommener Lauscher fühlen zu müssen.

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