Andrew Fletcher:
Sie beuten uns aus!

Wir werden jetzt ziemlich lange überhaupt nichts machen. Wir haben in zehn Jahren acht Studio-Alben gemacht und acht oder neun Welttourneen. Ich denke, es ist Zeit, eine Pause einzulegen, um unsere Kreativität zu erhalten. Wir können nicht nächstes Jahr ins Studio gehen, wenn unsere Musik gut und originell bleiben soll.

Da standen wir also in einem Seitengang der Berliner Deutschlandhalle, bepflastert mit grünen und gelben untertassengroßen Stickern, und harrten der Dinge, die da möglicherweise auf uns zukommen sollten. BildArt-Achim auf der Fährte nach dem DM-Foto überhaupt und ich mit den wunderbarsten Interviewfragen in der Tasche (und zu gewissen Teilen auch im Kopf). Zwei bepilste, auf DM-Verfolgung spezialisierte Fans hielten uns für Verteiler von Backstagekarten, die sie selbstredend nicht für heiße Sympathiebekundungen im Garderobentrakt mißbrauchen, sondern für ihre Trophäensammlung daheim kassieren wollten. Ich versprach, den Grünen (gelb hatten sie schon) nach Erledigung meiner Mission an einen verschwiegenen Platz zu kleben. Ob sie ihn nach dem Konzert dort vorfanden, weiß ich wegen der vielen argwöhnischen Security-Augen nicht zu sagen.

BildArt-Achim kam leider nicht auf die magischen 100 Zentimeter an einen der vier Musiker heran, mußte zähneknirschend (was nicht zu hören war) mit dem Bühnengraben vorlieb nehmen. Ich wurde durch lange Gänge geführt, sah flüchtig einen DM vor der Kamera eines italienischen Teams plaudern, und saß schließlich in einem neonbeleuchteten fensterlosen Raum (wo in Krimis Rechtsanwälte ihre Klienten zu treffen pflegen).

Warten auf Gore.

Der aber kam nicht, sondern Andrew Fletcher, genannt Fletch (für alle Unwissenden: Das ist der, der immer oben links steht). Fletch, ausgeruht und ziemlich seriös, blätterte kurz in der nmi und blickte mich nicht eben neugierig, doch höflich durch seine Brille an. Kurz nachdem die blonde Tour-Managerin durch die Tür lächelnd zur letzten Frage gemahnt hatte, brachte ich das delikate Image-Problem zur Sprache. Absolute Kontrolle über alle imageorientierten Belange, penibel bis ins letzte Detail! Wozu der Aufwand? Darf der Haarschopf, die Mimik, die Geste nur dem Schema DM entsprechen? �Das liegt an den furchtbaren Bootlegs, die verhökert werden - besonders in Deutschland! Es ist die Schuld einiger weniger deutscher Fotografen, die diese schlechten Fotos verkaufen. üben wir diese Kontrolle aus, ist es die einzige Möglichkeit, mit diesem Bootleg-Problem fertig zu werden. Alles, was wir versuchen, ist, gute Fotos und Videos zu produzieren. WIR WOLLEN ALLES IMMER NOCH BESSER MACHEN. Und dann kommen diese Typen und verkaufen Mist zu horrenden Preisen. Sie beuten uns aus!�

Die Debatten zu den Berlin Independence Days noch in frischer Erinnerung, reichte ich die viele Leute so enorm ereifernde Frage an Fletch weiter: Why Is All German Music Crap?

Die Plattenfirmen ermutigen die Musiker offensichtlich nicht, etwas Eigenes zu machen. Es ist wie bei vielen amerikanischen Plattenfirmen - sehr geschäftsorientiert, aber kaum kreativ. Die meisten Plattenfirmen in Deutschland (nicht die Indies, sondern die Majors) scheinen sich dadurch zu halten, daß sie ausländische Produkte verkaufen oder indem sie versuchen, ihre eigenen Gruppen wie ausländische klingen zu lassen. Ich meine, es gab in der Vergangenheit auch gute deutsche Popmusik. Aber eine Menge Bands scheinen nur englische und amerikanische Bands zu kopieren anstatt ihr eigenes Ding zu machen. Ich würde sagen, KRAFTWERK HABEN WIR WIRKLICH GEMOCHT - ihre Art Musik zu machen, Sounds zu finden, Geräusche zu kreieren anstatt einfach nur so zu schrammeln - das hat uns beeinflußt.

Wie geht ihr mit dem RAVE-Ding um? Martin Gore tritt nun auch das Wow-Wow-Pedal ganz geschickt.

Es gibt uns jetzt zehn Jahre und ständig kommen neue Trends. Der Punkt ist, daß jede englische Indie-Band gefällige Gitarrenmusik gespielt hat, die zu nichts führte. Und nun entdecken sie Synthesizer und Dance Music und nun gibt es Indie-Dance. Wir haben nie verstanden, warum nicht mehr Bands in den 80er Jahren elektronische Instrumente verwendet haben. Wir wußten, daß dies der Weg nach vorn war. RAVE... es ist wie in jeder Szene - das meiste ist schlecht, manches gut.

Wie ist deine Meinung zur Indie-Szene? Viele Leute fragen doch zurecht, was zum Beispiel an eurer Firma MUTE noch unabhängig sein soll.

Das Problem für viele Indie-Labels in England ist doch, daß sie als Sprungbrett für die Majors dienen. Ein anderes Problem: man kann bei ihnen keine große Kohle machen. Sicherlich: viele Bands beginnen bei den Indies und gehen dann zu den Großen. Aber das war nie unser Antrieb. WIR WOLLTEN IMMER DIE KONTROLLE üBER UNSER EIGENES SCHICKSAL HABEN. Und bei dem Label, wo wir zur Zeit sind, kontrollieren tatsächlich wir, was mit uns zu tun hat. Wir treffen alle Entscheidungen, niemand schreibt uns vor, was wir zu tun oder zu lassen haben. Es ist nur schade, daß die Majors so viel Geld haben. Wir jedenfalls sind stolz darauf, was wir auf einem Indie-Label gemacht haben. Ich selbst sehe mich als Musiker - Indie oder Major spielt da keine Rolle. Wir denken nicht so sehr in diesen Kategorien. Wir sind stolz auf unser Label und haben nicht die Absicht, es zu verlassen. Wir vereinbaren die Dinge immer noch per Handschlag.

Schlägt bei dir manchmal die Sehnsucht durch, mal wieder in kleinen Klubs drauflos zu jammen? Wie Prince beispielsweise. Ihr sollt in einem Berliner Szenetreff gewesen sein.

Ja, wir versuchen eben auch ein bißchen Fun zu haben, manchmal vielleicht auch etwas zu viel. In dem Kreuzberger Klub waren nur die England-Crew und ein paar Leute von der deutschen Tourbegleitung. Sowas wie Prince wollen wir nicht machen. Warum auch? Weißt du, auf einer Tour nach 60 bis 70 Shows hast du wirklich KEINE LUST, AUCH NOCH EINE EXTRA-VORSTELLUNG ZU GEBEN. Ich weiß auch nicht, ob Prince das ehrlichen Herzens macht oder ob's nicht nur ein Publicity-Trick ist. Ich kann ihn ja nicht fragen. Es könnte Werbung sein. Die Leute sagen dann: Schon gehört, Prince hat in einem kleinen Klub gespielt...

Ist JAMMEN für euch überhaupt wichtig?

Nun, auf der letzten Platte haben wir schon sowas gemacht. Wir haben versucht, von dem üblichen Weg des Musikmachens abzugehen. Und wie ich finde, mit Erfolg, denn die Platte klingt doch sehr frisch. Ich glaube, wir werden das auf jeden Fall weiter tun - wir haben einen guten Drummer und Martin ist ein toller Gitarrist. Und ich selbst habe nie aufgehört, Bass zu spielen. Mit diesem konventionellen Line Up werden wir versuchen, mehr das SPIELEN einzubringen.

Sind �Route 66� und �Policy Of Truth�, versetzt mit einem Motown-Bass, schon erste Zeichen dafür?

Nun, wir hören viel Rock'n'Roll aus den 50ern und 60ern. Das ist vielleicht meine und Martins große Inspiration beim Schreiben. Aber eigentlich hat es mehr mit diesem High-Way-Gefühl zu tun. �Policy Of Truth� handelt davon, daß die Politik der Lüge ständig weitergeht und ist eigentlich gemacht worden, um über eine Beziehungskiste hinwegzukommen. Die Verbindung zu Motown kann ich nicht so richtig sehen. Aber wenn du meinst...

Euer Stück �Pimpf� hat seinerzeit ein wenig Staub aufgewirbelt. Wie denkst du heute darüber?

Deutsche Einheit und so? Nun, ich denke, daß Deutschland jetzt ein anderes Land ist als damals. Als ich den Song geschrieben habe, da hatte ich gerade eine Menge über die deutsche Jugendbewegung gelesen. ES GING AUCH GAR NICHT SO SEHR UM DAS DEUTSCHE, ES GING DARUM, WIE KIDS DISKRIMINIERT WERDEN.

Beschreib doch mal die unterschiedlichen Reaktionen eurer Konzertbesucher.

Das amerikanische Publikum schreit laut und tanzt viel. Die Deutschen singen viel mehr mit, sie rufen mehr und sind in der Regel viel lauter. Die Japaner sind für uns das schlechteste Publikum. Sie sind sehr höflich - etwas, was wir Engländer überhaupt nicht gewöhnt sind. Sie lieben uns, stehen aber nur so da und klatschen artig. Es ist eben kein Rock'n'Roll!

Wie geht's mit euch weiter?

Oh, wir werden jetzt erstmal ziemlich lange überhaupt nichts machen. Wir haben in zehn Jahren acht Studioalben gemacht und acht oder neun Welttourneen. Ich denke, es ist Zeit, eine Pause einzulegen, um unsere Kreativität zu erhalten. Wir können nicht nächstes Jahr ins Studio gehen, wenn unsere Musik gut und originell bleiben soll.

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