LAURIE ANDERSON im ICC

Nehmen wir einmal an, ein mittelmäßiger Conferencier alter KGD (nicht: KGB)-Schule, emsig bemüht, die Umbaupause zwischen der Trapez- und der Papageiennummer mit penetranter Kurzweil zu füllen, erzählte uns die Geschichte seiner fleißigen Vorbereitung auf die nie im Traum angenommene Japantournee, bei der er ohne exakte Sprachkenntnisse selbstredend aufgeschmissen, ja, zu totalen Einbrüchen verurteilt wäre, und wir fieberten mit ihm, wie das dortige Publikum wohl seinen schier unglaublichen geistigen Aufwand honoriert, wie er Stürme der Begeisterung geerntet hätte! Was aber widerfuhr ihm, dem großartigen Conferencier? Ein höflicher Japaner habe sich nach der ersten Vorstellung zweimal höflich verneigt, ihm bestätigt, daß er doch ein so gutes Deutsch spreche und (nach einer nicht weniger höflichen Pause) habe dieser wohlerzogene Japaner hinzugefügt, er, der Conferencier, beherrsche zwar alle grammatikalischen und rhetorischen Künste, doch kämen diese wegen eines bedauerlichen Fehlers nur ungenügend zur Geltung. Was stellte sich heraus? Der Conferencier hatte Unterricht bei einem stotternden Japaner genommen!

Geschichten dieser belanglos-peinlichen Art habe ich zuhauf von Conferenciers gehört - sie langweilen und ärgern mich. Was aber, wenn der Erzähler nicht Müller, Schulze, Gottschalk heißt, sondern Laurie Anderson? Wird dann plötzlich aus Einfalt Avantgarde? Ich bin höchst unschlüssig. Jedenfalls hat sie tatsächlich die Story zum besten gegeben, wobei mir wiederum eine Konsequenz aus dem unwissend angenommenen Sprachfehler ganz ulkig vorkam, nämlich die Unmöglichkeit für Laurie Anderson, aus dem Dilemma herauszukommen, weil die Musik/Text-Gewebe so dicht gesponnen waren, daß sich jede Reparatur total ausschloß. Und damit wären wir wohl beim Kern der Angelegenheit, der da nicht nur �Language Is A Virus� heißt, sondern der Sprache als höchst empfindliche und innerhalb der digitalisierten Welt zu verteidigende Größe bloßlegt. Nur so kann ich die überaus anstrengenden (mitunter qualvollen) und geradezu ängstlichen Bemühungen der New Yorkerin interpretieren, ihre Botschaften allen im Saal in deutscher Sprache zu verstehen zu geben. Nur so kann ich den Versuch werten, das von ihr bekannte Konzept einer kompromißhaften literarischen Willkür auszusetzen. Dann sollte sie doch, meinetwegen wie Nick Cave, den Mut zu einer Lesung haben. Auf multivisuelle Effekte und dröhnend-minimalistische Computerklänge könnte ich gern verzichten, wenn mir Stories wie die folgende geboten würden:

Amerikanische Forscher bekommen riesige Summen, auf daß sie, um den im Weltraum einsetzbaren sechsbeinigen Roboter schaffen zu können, die Bewegungsform der Käfer und anderer Insekten studieren. Als die Milliarden verpulvert sind, zeichnet die Expertise ein erschreckend negatives Bild, denn was stellt sich heraus? Die Sechsbeiner bewegen sich höchst ungeschickt, ihre natürlichen Anlagen widersprechen geradezu den Notwendigkeiten. Das Pentagon, den gewaltigen Finanzschaden einer vergeblichen Forschung kaschierend, redet von den positiven Nebeneffekten der Weltrauminvestition für die Menschheit. Zum Beispiel könne sich der mäßig begüterte Mensch nach dem Tode durchaus einäschern und, verstaut in einer kleinen Kapsel, ins All schießen lassen, wo er für immer...
... bis eines Tages ein Raumschiff daherkomme, an der die Kapsel zerplatze wie heutzutage ein Käfer auf der Frontscheibe eines Autos.

Solche Geschichten erzählt Laurie Anderson (und ich kann mich nicht erinnern, dazu Musik gehört zu haben).

  STARTSEITE —   LESEN —   NMI Europa Rock Zeitung STECKBRIEF IMPRESSUM