Die unrasierten Achselhöhlen der
P. J. HARVEY

NME April 1992

Zur Wahlzeit 1992 glänzte die britische Werbeindustrie mit gigantischen Posterflächen für Gemüsekonserven und dem Spruch: It's Time For Choosing New Vegetables In Your Cabinet. Der alte Major-Kohlkopf aber wurde auch der neue. Die Rezession ging weiter. Und die mit Musik dealenden Briten spielen verrückt. Wer nimmt noch ein Stück Brot von Rave-Kapellen, wer will noch die ewig gleichen Kinderlieder aus der Noise-Spieldose hören? Machen wir also eine große konzertierte Harvey-Aktion.

Heike, für ein Jahr als Deutschlehrerin nach England gegangen, muß ihre Jeans im Kleiderschrank lassen, denn der Herr Direktor achtet streng darauf, daß sich der weibliche Lehrkörper seiner pädagogischen Aufgaben im adretten Rock entledigt. Dafür kneift ihr der Sportlehrer ab und an ins Knie und schwört, die schönsten Beine nach Monroe vor sich zu haben. Möglicherweise lernt man den Sittenkodex der Briten im Schulwesen eher (und besser) kennen als auf der Straße oder in irgendeinem Klub, denn wie sollte Heike wohl sonst wissen, welch schockierende Wirkung der New Musical Express vom 4. April auf die Psyche des Durchschnitts-Insulaners ausüben mußte. Haare in der Achselhöhle - disgusting! Dagegen nimmt sich Pollys schräg von hinten aufgenommener nackter Rücken mit dem klitzekleinen Brusteinblick auf dem Cover (raffinierter Typ, dieser Fotograf Cummins!) relativ harmlos aus!

„Will in deinen Achselhöhlen Dunkel tun auf mein Gesicht”, dichtete einst der Leipziger Lyriker Andreas Reimann für das „Liebeslied” der Gruppe Lift. Anrüchig für einen Engländer? Im Gespräch wischt Polly das haarige Spektakel vom Tisch: „Das ist lächerlich und dumm. Für mich war das eine ganz natürliche Sache, ich habe es in keiner Weise geplant. Bei der Foto-Session hat sich die Sache eben so entwickelt. Ich finde es überhaupt nicht schockierend.”
Es hat sich eben so entwickelt. Tatsächlich?
Dem Gespräch mit Polly und ihrem Bassisten Stephen Vaughan in der Lobby eines kleinen Hamburger Hotels wohnt Manager Mark Vernon bei. Ich weiß nicht, warum. Möglicherweise, um die Gedankenwelt seiner Klientin besser kennenzulernen, denn wie sich später herausstellt, kriegt er von ihr die Anweisungen. Aber wenn er schon mal so unerwünscht rumsitzt, soll er wenigstens sagen, was er zum Erfolg beigetragen hat. Nichts besonderes, außer vielleicht das Schiff auf Kurs und die See ruhig zu halten."
Hat sich das NME-Cover auch einfach so ergeben?
„Nichts war kalkuliert”, sagt Vernon. „Wir mußten nichts dazu tun, wir mußten diese Situation nicht schaffen, sie ist einfach so entstanden. Zu uns kamen die Leute. Das trifft zum Beispiel auf das NME-Cover zu. Wir haben nicht gesagt, bitte gebt uns eure Titelseite. Der NME hat uns angesprochen...”
Polly fügt rasch hinzu: „Ich hasse es, daß so viele Leute meinen, wir wären sie wegen einer Titelseite angegangen. Und die einzige Art, wie man das erreichen kann, sei offensichtlich, seine Klamotten auszuziehen. Das ist es ja wohl, was die Leute unterstellen. Das ist totale Scheiße, denn sie wollten das Cover haben, und das Wie war total mir überlassen. Als sie darum baten, konnte ich selbst entscheiden, welches Image ich da präsentieren wollte. Und überhaupt nicht umgekehrt.”

Rough Trade Faltblatt Front

Polly J. Harvey weiß zum Zeitpunkt unseres Gespräches noch nichts vom neusten Promo-Faltblatt ihres deutschen Vertriebs Rough Trade. „I'm sick of that”, stößt sie empört aus, zieht sich mit Manager Vernon für eine Viertelstunde zu einer improvisierten Krisensitzung in ihre Kemenate zurück, um ihn dann gegen die arme unschuldige Rough Trade-Promoterin Violetta vorzuschicken. Nebeneffekt der Attacke: Die beiden Interviewer werden vom versprochenen Makkaroni-Mahl ausgeschlossen.

Rough Trade Faltblatt Rückseite

Schauen wir uns das Faltblatt an: Ein koloriertes Polly-Foto mit blauen Augen und knallrotem Mund. Das Rot, fein und ordentlich auf die Lippen gepinselt, bringt sie zur Weißglut, denn dies entspricht nicht dem Image des LP-Covers. Und jetzt verstehe ich endlich, was mir (und Euch!) dieser lippenstiftverschmierte Mund und der große diagonal aufs Backcover gesetzte, herausgedrehte Stift sagen will:
Achtung! Hier kommt nicht euer männergefälliges Kosmetik-Häschen, sondern die zornige selbstbewußte Polly Jean Harvey.

Cover

Und die geht, wobei sie im Interview irgendwelche feministischen Bindungen strikt verneint, mit komprimierter, selbst für Engländer nicht sofort verständlicher Lyrik hart gegen die Männerwelt zur Sache. „Oh, My Lover”, das erste Stück des Albums, kann, wer will, gern als demütiges Liebesliedchen verstehen. Genau und anders hingehört, ist's eher das Männer-Wunschlied vom jederzeit bereiten samen- und sorgenschluckenden Weib (I Know You Don't Have The Time/But It's Alright/Give Me Your Troubles/I'll Keep Them With Mine). Hinterhältigst getarnte Rachesongs, deren ganz besondere Boshaftigkeit in der strikten Verwendung musikalischer und soundtechnischer Mittel schlagkräftiger Männertrios steckt! Und ich hatte Polly blöderweise auch noch gefragt, ob sie wohl ihr Album als Sammlung von elf Lovesongs verstände. Ihr Antwort: „Ich glaube nicht, daß du diese Lieder als Lovesongs bezeichnen kannst. Es sind gleichzeitig Liebes- und Haßsongs.” Bei „Sheela-Na-Gig”, der überrumpelnden zweiten Single, soll es angeblich um zuweilen auf irischen und englischen Friedhöfen stehende, mystische Wasserspeier gehen, deren Form und Funktion Polly dazu veranlaßte, über geldgestopfte Götzenlöcher (Idol Holes) nachzusinnen. Da sie zu Beginn des Stückes für ihre, (dem Freund) zu Füßen gelegte Liebe als eben diese Sheela-Na-Gig, nämlich als breithüftiges, vaginavorstreckendes Fruchtbarkeitssymbol und - noch dazu - als Exhibitionistin verunglimpft wird, singt Polly resolut: „I Wash That Man Right Out Of My Hair” und bleibt damit sogar im Sinngehalt des Wasserspeiers. Wenn selbst Andrew Collins vom NME das Fehlen von Textblättern im Harvey-Album bedauert, weil er offenbar auch als Muttersprachler nicht alles kapieren konnte, ahne ich, was wir verpassen.

Nein, die aus einem kleinen Kaff bei Bristol stammende Polly hat nichts gegen den Begriff Indie-Madonna. „Das ist gut und lustig”, sagt sie. Nun sind sie aber schon vorbei, die Indie-Zeiten der Polly. Es stand wohl nicht in der Macht des kleinen Harvey-Entdecker-Labels Too Pure, die Musikpresse Großbritanniens über Wochen derartig zu beschäftigen. Im Dezember 1991 schon wurde ein Vertrag mit Island Records unterschrieben, die erste Island-Single soll im Sommer erscheinen und die Produktionen fürs zweite Album beginnen bereits im September.

Polly sagt, was für die schnelle Unterschrift bei Island gesprochen habe: „Dafür gibt's ne Menge Gründe. Der Deal war in Ordnung, und die Leute, wie ich finde, sind es auch. Er ermöglicht uns eine Menge Kontrolle hinsichtlich der Kreativität. Wir konnten als Band nicht weiterbestehen mit diesem finanziellen Rückhalt, den uns Too Pure bot. Und ich wollte, daß die Band weiter funktionierte. Und das erforderte einfach Geld, um es tun zu können.” Bassist Stephen: „Zwei hatten noch Jobs und wir brauchten sofort Geld, aber wir wollten natürlich nicht unsere Seelen verkaufen, und der Deal mit Island läßt uns die Kreativität. Wir haben über alles die Kontrolle...”
„...also”, fügt Polly hinzu, „über Werbung, Plattenhülle usw.”

CD Rückseite

Für mich käme als Produzent der zweiten LP eigentlich nur einer in Frage: Steve Albini. Die anvisierte hohe Dynamik zwischen Noise und balladesker Ruhe bringt nur der in ungekünstelter Atmosphäre fertig. Als ich Polly auf die Breeders anspreche und speziell deren „Metal Man” erwähne, nickt sie begeistert und bedauert gleichzeitig, daß „Dry” leider nicht so extrem geworden ist, wie es hätte sein können. „Wir hatten ja bisher keinen Produzenten, wir haben selbst produziert und ziemlich eng mit unserem Toningenieur zusammengearbeitet, der unsere Richtung gut verstanden hat. Im Moment kann ich mir noch keinen Produzenten vorstellen. Steve Albinis Produktionen finde ich sehr gut. Aber trotzdem: Ich würde es zunächst noch mal allein versuchen. Zumindest so lange wie ich denke, noch ein paar andere Ideen als Steve Albini zu haben.”

Richard Roberts und Paul Cox von Too Pure, denen Island auf ziemlich brachiale Weise den Star geraubt haben soll, träumen indes von ihren nächsten großen Acts, z. B. von Moonshake, und sind sich sicher, daß die Industrie nichts anderes zu tun haben wird, als in den nächsten Monaten „PJ Harvey Soundalikes” an Land zu ziehen. Roberts prophezeit Parallelen zur Verwertung der Manchester-Szene. Und dann gibt es womöglich endlich mal wieder einen Sampler namens „Lieber zu viel als zu wenig”.

Übrigens: Ein DDR-Bürger - der als Toaster bekannte Olaf Tost (die anderen) - hatte schon im Frühjahr 1989 gewußt, daß Polly eines schönen Tages zu den ganz großen Musikerinnen gehören würde. Damals tourten die anderen und eine englische Band namens Automatic Dlamini mit Polly als gelegentlicher Sängerin und Saxophonistin durch den Osten. Zarte Freundschaftsbande bescherten Olaf zu einem Zeitpunkt, als Too Pure vermutlich noch gar nicht existierte, die taufrischen Demos der Polly Harvey (u.a. „Happy And Bleeding”). Da wäre Olaf also, wenn er beim Kulturministerium ein eigenes Label durchgekriegt hätte, beinahe zum gefragten Verhandlungspartner von Island Records geworden! Hier ist sein Harvey-DDR-Schnappschuß:

DDR Schnappschuss
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