SUICIDAL TENDENCIES

The Art Of Rebellion

Die Kunst des Aufruhrs oder Die Kunst des Aufruhrs? Endlich mal wieder ein LP-Titel, der dir zu denken gibt! Nehmen wir mal an, du k�nntest eine Rolltreppe benutzen, w�hlst aber die benachbarten, entsetzlich vielen Stufen. Was passiert? Von der  Rolltreppe verfolgen dich irritierte, ja finstere Blicke.  Dieses Beispiel (es geht selbstredend noch viel, viel dekadenter!), nannte mir k�rzlich jemand, um die rebellische Verwirrungs-Praxis, gewisserma�en die k�nstlerische Alltags-Installation zu veranschaulichen.

Na ja, wenn wir's 'ne Nummer kleiner wollen, fragen wir einfach Mike Clark - Rhythmusgitarrist bei Suicidal Tendencies seit dem dritten Album "How Will I Laugh Tomorrow, When I Can't Even Smile Today"(88).

"Die Betonung liegt auf beiden Begriffen, denn es ist eine in k�nstlerischer Hinsicht rebellische Platte. Das ist sicherlich schwer zu erkl�ren. Ich verstehe es meist selbst nicht. Es ist so, da� du auf unterschiedliche Weise rebellisch sein kannst. Das meint wahrscheinlich, da� man ein schlauer oder gerissener Rebell sein kann, der sich bestimmte k�nstlerische Sachen erlauben kann. Das ist meine Erkl�rung f�r den Titel. Ich glaube, du w�rdest von jedem eine andere Antwort kriegen, wenn du alle von uns fragen w�rdest. Aber das ist ja auch cool, wenn sich die Leute fragen, was es eigentlich bedeutet."

Die brennende Monalisa

Folgen wir dem guten Mike Clark, der mir w�hrend unseres lustigen Gespr�chs mit den Rollschuhen unter dem kleinen Huxley's-Junior-Klub-Tisch zu scharren schien, dann bedeutet der LP-Titel auf Suicidal bezogen: Hey, wir k�nnen was, und - da die Plattenfirma gen�gend Produktions-Kohle investiert - machen wir was draus. Zu einfach? Okay, lassen wir eben den Suicidal-Chef Mike Muir h�chst pers�nlich zum Thema referieren.

Erster Gedanke:

"Besonders in der Musik ist es so, da� Leute Sachen machen, von denen sie denken, da� sie sich gut verkaufen. Sie versuchen,  sich einem bestimmten Publikum anzupassen."

Zweiter Gedanke:

"Rebellion ist eher etwas Spontanes. Man sieht etwas, was nicht in Ordnung ist und revoltiert dagegen. Und ich denke,  da� es wohl f�r viele Leute zu leicht ist, da� es f�r die nichts gibt, wogegen sie revoltieren m��ten. Und dann schauspielern sie eben. Und das wird dann eine Art Kunst. Da sitzen die ganzen Leute herum, denen es wirklich gut geht und sie jammern. Sie leben direkt am Meer (eine Menge von diesen Rock-Leuten), sie geh�ren zu den Reichsten der Welt und scheren sich einen Dreck um andere Leute."

Was? Nein, von Politikern hat Muir nicht gesprochen.

Dritter Gedanke:

"Wir haben den Unterschied zwischen diesen und jenen K�nstlern (Muir sagt das nicht so, er sagt Artist und Artiiiieeest!). Bei den einen ist es so: Du gehst hin und fragst sie, ob sie ein bestimmtes Panorama malen k�nnen. Die machen's und wenn sie fertig sind, guckst du's dir an und sagst, wow, das sieht ja wirklich so aus. Wundervoll, great. Ich w�nschte, ich k�nnte das auch so.

Und die anderen K�nstler? Die malen auch was, und wenn du dir das anschaust, sind das lauter wirre Linien und Farben. Und wenn du dann meinst, das sei nicht, was du gesehen hast, dann sagen sie: Klar ist es das. Du kannst es blo� nicht erkennen.

Das ist das Problem. Jeder versucht, so ein K�nstler zu sein, hip zu sein, die Leuten etwas glauben machen zu wollen, was nicht da ist. Das meint unser Cover. Da gibt's diese Monalisa, das ist ein Kunstwerk. Dann sind da aber auch die Flammen. Und die Leute sagen: Ihr wollt doch nicht etwa die Verbrennung des Bildes zeigen. Und ich sage dann: Nein, wenn ihr genau hinseht, dann ist da auch dieser Sicherheitsbeamte, der �berhaupt nichts tut. Wenn das Bild also wirklich brennen w�rde, dann w�rde doch eine Panik ausbrechen. Feuer ist etwas Unkontrolliertes -  wie Rebellion. Es geht also mehr um das Sinnbild als um tats�chliches Feuer."

Einblendung: Dieser Museumsbeamte, die hohe Stirn geschm�ckt mit einem typischen Suicidal-Tuch, steht vor dem Bild der Monalisa - desinteressiert, unbeteiligt. Ein Tag wie jeder andere. Das Gem�lde anderthalb Meter hinter ihm brennt allerdings. Ein Tag wie jeder andere.

Die Suicidals besitzen f�r mich eine Qualit�t, die sich im weitr�umigen Crossover-Bereich h�chst selten zeigt: Witz (was nicht Fun meint). Schon ihr zweites Album "Join The Army", vier Jahre nach ihrem Punk-Superseller von 1983 erschienen (angeblich die meistverkaufte US-Punk-LP aller Zeiten!), hatte uns diesen widerlichen Rambo-Sack pr�sentiert, dessen ausgestreckter linker Zeigefinger in den Betrachter bohrt, als k�nne der sich f�r dieses miserable Gesch�ft namens Army erw�rmen. Dieses Cover, das den ernstgemeinten Slogan des Pentagon-Azubi-Departements ironisch umfunktionierte, war dann wohl schon sowas wie Kunst des Aufruhrs. Musikalisch betrachtet, konnten die Suicidals ihre abgespacten Songs ohnehin nur mit einer �berdosis schr�gen Humors zusammengefriemelt haben: wirklich gut gespielter Punk mit hurtigem Sprechgesang trifft nette melodische Refrains ("I Want More), aus Speed-Passagen plumpsen traditionelle Rockriffs und herzzerrei�ende Gitarrenchorusse. Als die Suicidals ein wenig sp�ter Funk f�r sich entdeckten, waren sie f�r das orthodoxe Volk �berhaupt nicht mehr zu retten.  Sie gingen mit subversiven Breaks in die Punkmonotonie und wechselten so halsbrecherisch, wie sie mit Rollschuhen durch die Stra�en von Venice bretterten, das Tempo zwischen Zeitlupe und Bleifu�. Punk-Projektile schossen durch Beton und kamen  mit Funk-Nuten wieder raus.

Melodious Tendencies

Diese Pioniertaten funktionieren auch heute noch, sie wirken blo� anders. Zum Beispiel "Subliminal" oder das sehr �hnliche "I Saw Your Mommy..." vom Deb�t-Album. Wer diese grobschl�chtigen, temposchleppenden Nummern nicht kennt, denkt heutzutage im Konzert, Suicidals Tendencies frisierten die Stooges mit ein wenig Nirvana auf (was wohl daran liegt, da� sie ihr altes Material neu entdecken).

Wie sieht's denn nun aus mit den Zeichen der Zeit? Melodious Tendencies? Mike Clark sieht das ganz locker.

"Es ist so, als gehst du die Stra�e lang,  hast eine Melodie im Kopf, summst sie vor dich hin und stellst dann irgendwann fest, ah, das klingt cool. Und dann setzt du dich eben hin und spielst das auf der Gitarre. Manchmal kommt dabei eben ein Song raus. Ich stehe wirklich auf Melodien, aber ich glaube nicht, da� dies ein Trend ist, denn z. B. all diese Heavy Speed Metal Bands halten sich doch v�llig fern von Melodien. Und andere Bands wiederum versuchen bewu�t,  melodisch zu sein. Wir vermischen das einfach. Ich glaube, da� es auch schon auf der ersten Platte Melodien gab. Zum Beispiel 'I Want More'. Und auch bei 'Join The Army'. Ich glaube, da� es auf allen Platten melodische St�cke gab. Nur da� es jetzt noch etwas melodischer geworden ist. Wir sind als Band musikalisch gewachsen und man kann uns jetzt nicht mehr einordnen. Das gef�llt uns. Wir sind nicht mehr so schnell, daf�r aber viel besser.  Wir wollen keine Heavy Metal Band oder Punk Band oder Happy Rock Group sein. Wir wollen alles sein: funky - und was auch immer."

Und sie k�nnen auch wirklich alles sein! Empfohlen vom eigenen Management, lie� sich Suicidal, nach immerhin sehr guten Erfahrungen mit Mark Dodson auf "Lights...Camera...Revolution"(91) nun von Peter Collins produzieren. Schwere Gitarrendr�hnung und Akustikklampfen im schicken Wechsel, fette Geigen - mal rhythmisch, mal psychedelisch, weit nach vorn gerutschter Gesang, hippieske Vokalisen, stadiontaugliche Refrains, wehm�tige Leadgitarren im gemischten Doppel, Ger�usche - und trotzdem immer wieder ph�nomenale Breaks. Wer ist dieser Peter Collins? 

Mike Clark: "Er soll vorher mit Bands wie Rush und Queensryche und verschiedenen Popbands zusammengearbeitet haben. Wir wu�ten �berhaupt nicht, wer zum Teufel er war. Als wir dann zusammenkamen, war es einfach nur so:  Yeah, let's do it.  Es hat wirklich gut geklappt."

B�swillige Kritiker wenden sich nun angewidert ab, gutwillige finden, ST f�hrt nun endlich die Kohle ein, die ihnen seit langem zustehe. Mike Clark, an vier St�cken des neuen albums auch als Autor beteiligt, lacht: "Das ist einfach nicht wahr. Ich lebe immer noch in einer Mietwohnung und habe eine Schrottm�hle als Auto. Es ist also noch nicht passiert, obwohl es nat�rlich toll w�re. Mir w�rde es schon gefallen, wenn es alles etwas gr��er w�rde, wenn wir mehr Leute erreichen, in gr��eren Hallen spielen und h�ufiger hierher kommen k�nnten." Nun, seine n�chsten Tantiemen-Abrechnungen  werden ein paar Nullen mehr aufweisen. ST-Musik gilt inzwischen als radiotauglich und �berhaupt..."Unsere �lteren Platten sind so gut wie nie gespielt worden. Fr�her war Suicidal mehr so eine Underground-Sache und jetzt passiert es �berall. Und das ist toll. Vor kurzem war ich in Paris und da haben sie's in der Disco gespielt. Das war ein ziemlicher Schock, aber auch irgendwie cool. Die Leute haben dazu sogar getanzt, war wirklich lustig."

INFEFECTIUOS GROOVES

Die echte freeky fuckin' Danceband allerdings tr�gt einen anderen Namen. Als Idee von Mike Muir, seinem Bassisten und einigen anderen abgedrehten Westcoast-Gestalten, z. B. von Jane's Addiction, entstanden und relativ unauff�llig im Herbst letzten Jahres erschienen, traf der Titel des ersten Albums den Kern der Sache: "The Plague That Makes Your Booty Move...It's The Infectious Grooves". Kurz vorm Beginn der ST-Europa-Tour wurde das zweite Album fertig. Ein rechtes Sammelsurium �brigens, denn es enth�lt zwei Outcuts vom ersten Album, ein paar Demos, zwei neue St�cke, zwei Cover-Versionen, zwei St�cke mit einem anderen Produzenten, zwei neue Live-St�cke...Muir:" Wir dachten, da� es wichtiger w�re, den gesamten Proze�, wie man als Band w�chst und sich entwickelt, zu zeigen. Da sind Demos sehr wichtig, selbst wenn der Sound nicht so toll ist wie bei Studioaufnahmen. Daf�r zeigt's halt, wieviel Spa� wir hatten. Wir wollten uns mal eher als Fans zeigen. Mal ins Studio gehen, mal ein paar Coverversionen spielen, ein bi�chen rumalbern. Es ist eine wirklich lustige Platte. Und das ist es doch, worum es bei Musik eigentlich gehen sollte. Das war uns wichtiger als die Ansicht - okay letztens haben wir soundsoviel Platten verkauft und diesmal m�ssen wir mehr verkaufen. Also m�ssen wir sie soundso vermarkten. Wir wollten einfach nur ne Platte machen und die Leute, die sie m�gen, k�nnen sie dann eben kaufen und damit hoffentlich ihren Spa� haben."

Wenn Infectious Grooves pures Vergn�gen beschert, k�nnten Suicidal Tendencies aus der Sicht des Machers eher als harte Arbeit gelten! Muir meint: "Na, ich habe immer gesagt, wenn ST ein Job wird, dann gebe ich meine Papiere ab und setze mich zur Ruhe. Ich glaube ST ist anstrengender, weil da eine Menge Herzblut von mir drinsteckt. Es ist ungef�hr so, als h�tte man ein Kind und sei darum sehr besorgt. Wenn Leute da nicht kapieren, was du tust, wenn sie dich angreifen (und damit vielleicht sogar recht haben), wenn sie dich also fertig machen, reagierst du eben viel sensibler. Es ist schwierig, sich  st�ndig wegen irgendwas verteidigen zu m�ssen. Bei Infectious Grooves war es so, da� wir ne Platte gemacht haben, bevor wir es irgendjemandem erz�hlt haben. Wir hatten noch nicht mal einen Plattenvertrag. Wir hatten kein Video, keine Werbung in den Staaten und haben gewartet, bis die Leute es h�ren und, wenn es ihnen gefiel, auch kaufen konnten. Das war eine gute Situation, es gab keinen Druck, nur 'ne Menge Spa�. Und dann auch noch Ozzy f�r dieses Produkt zu gewinnen und mit ihm auf Tour zu gehen! Cool! Irgendwie war das auch eine Art Pr�fstein f�r ST. Wenn Leute an Suicidal denken, dann meinen sie, du w�rst so und nur so, weil du gar nichts anderes drauf hast. Und ich sage, wir machen ST, weil wir davon �berzeugt sind. Das hat eine Menge Leute gezwungen, uns mit etwas anderen Augen zu betrachten."

Wohl dem, der seine Wesenskr�fte auf so verschiedene Weise zu entfalten vermag.  Das allerdings hat nichts mit der Kunst des Aufruhrs, sondern mit der Kunst des Ehrgeizes zu tun.

Pan Suicidalitzki

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